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Erwachsenwerden

4. Loslassen - Was bedeutet die Ablösung für die Eltern?

4.1. Änderungen im Familiensystem – Elternrolle neu justieren

empty nest

Photo: Pixabay

Was bedeutet die Ablösung oder ein Auszug eines beeinträchtigten Familienmitglieds für die Familie?

„Es wäre optimal, wenn beide Parteien (also Eltern und Jugendliche) genügend Zeit hätten, sich sanft voneinander weg zu entwickeln (bis alle Abhängigkeiten gelöst) sind und die Kontakte auf absolut freiwilliger Basis stattfinden. Diesen idealen Ablösungsprozess gibt es in der Realität aber selten, vielmehr erlebt man oft eine Zeit großer seelischer Schmerzen“ [6]

Leider scheint der richtige Zeitpunkt selten zu passen. Entweder tragen äußere Lebensumstände, wie der Besuch einer bestimmten Förderstätte, oder innere Probleme, dazu bei, dass Kinder zu schnell abrücken und die Eltern wenig Zeit haben sich daran anzupassen. Oder die Kinder bleiben länger, manche sogar lebenslang zu Hause „kleben“. [6]

Wenn ein Auszug ansteht wird dies nach dem Entwicklungspsychologe Bronfenbrenner als  „ökologischer Übergang“ verstanden, weil „eine Person ihre Position (in der ökologisch verstandenen Umwelt) durch einen Wechsel ihrer Rolle, ihres Lebensbereichs oder beider verändert.“ (Bronfenbrenner, 1981, 43). Dieser bringt immer auch eine Rollenveränderung mit sich.

Die Loslösung im speziellen von Menschen mit Beeinträchtigungen  ist besonders herausvordernd für das Familiensystem. Sie wird  „als kritisches Lebensereignis“ [..] bezeichnet und als „zweite Krise“ der Familie beschrieben (nach der Geburt eines behinderten Kindes nun die Ablösung von der Familie)“ [7]  „Als kritische Lebensereignisse werden dabei solche verstanden, die durch Veränderungen der (sozialen) Lebenssituation der Person gekennzeichnet sind und die mit entsprechenden Anpassungsleistungen durch die Person beantwortet werden müssen" (ebd.).

Grund für die mögliche Krise ist, das „behinderte Kinder (...) häufig zentraler Lebensinhalt der Eltern [sind]." [9]. Jahrelang war dort eine Person, um die sich alles gedreht hat.  Diese Funktion des Kindes hilft auch Familien zu stabilisieren. [10]
Verläßt das Kind sein Heim, fällte es besonders Frauen schwer, den Übergang von der aktiven zur passiven Mutterschaft zu bewältigen, sagt Bettina Teubert, Familientherapeutin. Die Mütter fühlen sich nicht mehr gebraucht und überflüssig, und könnten am Empty-Nest-Syndrom leiden. Eine Selbsthilfegruppe, um den Müttern die Übergangszeit und den Widereinstieg in den Beruf zu erleichtern kann Abhilfe verschaffen. "Es handelt sich beim Empty-Nest ja nicht um eine Krankheit, sondern Folge eines ganz normalen Lebensereignisses mit positiven und negativen Seiten, aber trotzdem sprechen Betroffene manchmal von „Depression" und „Trauerarbeit". [11]
Aber auch andere verdeckte Probleme können nach einem Auszug mit voller Härte zum Vorschein kommen: Zum Beispiel zeigt sich, dass die Partnerschaft nur noch durch das Kind besteht und die Beziehung sich abgekühlt hat. Oder der Vater, der auf einmal eifersüchtig auf die Jugendlichen und ihre Freiheiten ist, seiner eigenen Jugend nachtrauert. Und nicht zuletzt die Jugendlichen selbst, die völlig ungewohnt eigenverantwortlich handeln und sich entscheiden sollen und es erst noch richtig lernen müssen.[12]

Wenn die Eltern den Auszug ihres erwachsenen Kindes anschieben müssen, aufgrund äußerer Faktoren, wie ein entfernter Arbeitsplatz, wird dies zusätzlich als belastende Zeit erlebt. In Deutschland muss diese Entscheidung vor einem Amt in Deutschland begründet. Diese Ablösung  wird dadurch als aktives Weggeben erlebt. „Selbst für die Ablösung eines Kindes aktiv werden zu müssen, muss ambivalente Gefühle auslösen. [8] Werden diese Gefühle nicht bewußt bearbeitet kann dies zu Probleme führen. Das Unbehagen mit der Situation kann sich auf die Einrichtung übertragen. „Die machen alles falsch“. (Uphoff 2018)

Gehen Eltern und die Familienmitglieder aktiv in diesen Prozess, tauschen sich aus und lernen sich mit zunehmender Ablösung neu zu orientieren, kann diese Phase gut gemeister werden.

Wenn  Sohn oder Tochter möglichst lange bei sich leben und wohnen sollen bzw.  Eltern die Hauptverantwortlichkeit für diese behalten, wird ebenso eine eine Neudefinition der eigenen Rolle und Abgabe von Verantwortung wichtig sein, um in ein neues Gleichgewicht zu kommen.


Bei der Umgestaltung der Familienstruktur und Neujustierung der Rollen können folgende Punkte helfen:

  • Aktiver Austausch in der Familie, Entwicklung gemeinsamer Strategien, offener Umgang mit Gefühlen und Bedürfnissen.
  • Reflexion der eigenen Rolle, Perspektiven, Bedürfnisse, Handlungsmöglichkeiten.
  • Raum für die Interessen anderer Familienmitglieder, Gesschwister haben ihr Bedürfnisse oft "automatisch" jahrelang hinten angestellt.
  • Austausch andere Eltern.
  • Rückbesinnung auf den Partner und Zeit zu Zweit.
  • Stabiles soziales Umfeld, gute Freunde und Familie erleichtert die Ablösung.
  • Herausfinden neuer und alten Interessen.
  • Lassen Sie die Trauer zu. Sie ist ein normales Symptom für die Veränderung Suchen Sie sich professionelle Hilfe, wenn Schlaflosigkeit und andere Anzeichen von Depression hinzukommen.
  • Zeit für neue Projekte.
  • Siehe auch Checkliste: Konkrete Schritte im Ablösungsprozess für Eltern  (vgl. Eckert 2007, 62: Fischer 1997, 283ff.; Seifert 2004, 319f.)

Leider können wir in diesem Umfang auf die Situation der Geschwister nicht im speziellen eingehen. Aufgrund der Wichtigkeit des Themas, möchten wir aber darauf hinweisen, dass diese besondere Beziehung und die Auswirkungen für die Geschwister zunehmend in Fachliteratur beschrieben wird.