Erwachsenwerden

3. Mein Kind unterstützen

3.1. Auf dem Weg zur eigenen Identität

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Diese Kapitel beinhaltet Anregung und Ideen, wie Sie Ihr Kind auf dem Weg zu einer eigenen Identität unterstützen können.

Folgende Punkte werden dabei besonders betrachtet:

  • Auffälliges Verhalten als Ablösesymptome wahrnehmen (3.1.1.)
  • Teil einer Peergruppe sein können  (3.1.2.)
  • Experimentieren lassen (3.1.3.)


3.1.1. Auffälliges Verhalten als Ablösesymptome wahrnehmen

Zur Erinnerung: Zunächst müssen Eltern erkennen, dass ihr Kind beginnt sich abzulösen, was bei Menschen mit geistiger Behinderung gar nicht immer so einfach ist, da sie sich in verschiedenen Entwicklungsbereichen oft zeitversetzt entwickeln, wie in Kapitel 2.3.1. beschrieben.

Ein Pubertierender mit intellektueller Beeinträchtigung hat möglicherweise nicht in allen Persönlichkeitsbereichen den gleichen Entwicklungsstand erreicht:

„So sieht sich die Bezugsperson häufig einem Jugendlichen gegenüber, der zwar seine Loslösung anstrebt, um seinen Freiraum kämpft und sich dabei wie ein Trotzkind gebärdet, im nächsten Augenblick aber symbiotische Bedürfnisse äußert, Körperkontakt sucht, schmust und unter starken Trennungsängsten leidet.  Hier gilt es, alle Entwicklungsebenen ernst zu nehmen, und zwar jede in dem Augenblick, in dem sie das Verhalten bestimmt. Das erfordert die Fähigkeit, ständig die Kontaktebene zu wechseln: Herrschen die symbiotischen Wünsche vor, sollten sie berücksichtigt werden, steigt der Jugendliche auf eine höhere Entwicklungsstufe, sollte ihm dort begegnet werden. Auf diese Weise wird ihm eine Weiterentwicklung der Gesamtpersönlichkeit am ehesten ermöglicht.“ [2]

Hilfreich in diesem Zusammenhang ist die Aufmerksamkeit auf deutliche Veränderungen beim Kind zu richten: Die Veränderungen im Prozess des Erwachsenwerdens beginnen zunächst auf der körperlichen Ebene, Zeichen dafür sind z.B. der Beginn der Menstruation oder der Stimmbruch. Diese „Zeichen“ sind Bezugs- und Orientierungspunkte, die auf eine neue Entwicklungsphase hinweisen und notwendige Veränderungen in der Eltern-Kind-Beziehung nach sich ziehen.

Wie Sie Kind hier unterstützen können:

  • Machen Sie ihr Kind auf die Veränderung aufmerksam und helfen Sie ihrem Kind sie einzuorden.
  • Nehmen Sie diese Zeichen und Orientierungspunkte als Anlass für ein Ritual oder ein Geschenk. Machen Sie ihm ein Geschenk, z.B. ein Kleid, oder stellen Sie eine Bescheinigung für das Erwachsenwerden aus und machen Sie dadurch die Veränderung deutlich!
  • Zeigen Sie ihrem Kind, wie stolz Sie auf seine Entwicklung sind.


Den körperlichen Änderungen folgen Verhaltensänderungen. Sie zeigen sich, wie unter Punkt 2.3.3 beschrieben, in unterschiedlichen Weisen und sind oft schwer als Ablösesymptome erkennbar. [3] Eine Expertin stellt dazu treffend fest, dass Menschen mit einer geistigen Behinderung oft wenig Rückmeldung über ihr Sozialverhalten erhalten. Es wird regulierend eingeschritten oder man erträgt die Marotten. Dadurch können sie wenig Selbstregulation entwickeln. Hier wird eher wenig gefordert. Somit fehlen Auseinandersetzungen in denen die jungen Menschen eine Chance haben, selbst etwas zu bewirken (Vgl. Senckel 2004)!

 Wie Sie Kind hier unterstützen können:

  • Greifen Sie Konflikte im Zweifelsfall als Konflikte um Ablösung, Verselbständigung auf und sprechen Sie mit Ihrem Kind darüber.
  • Geben Sie in Konflikten neue Freiräume für den Willen des Jugendlichen. Lassen Sie ihn sich auch einmal durchsetzen – auch mit möglichen Negativfolgen.
  • Akzeptieren und unterstützen Sie den Wunsch nach Privatsphäre – z.B. eine geschlossene Zimmertür
  • Nehmen Sie den kognitiven Entwicklungsstand Ihres Kindes nicht als Maßstab für Zeichen der Ablösung.
  • Machen Sie sich die fehlenden geistigen Ressourcen ihres Kindes zur Verarbeitung  dieser Dinge  (Prozesse) bewusst. Unterstützen Sie es indem Sie mit ihm über diese Dinge sprechen und ihm emotional Halt geben.
  • Die Kunst ist, als Eltern oder Erzieher Freiräume zu geben, ohne sich emotional zurückzuziehen!



3.1.2. Teil einer Peergruppe sein können, intime Beziehungen haben

Wie in den Kapiteln 2.2. und 2.3.4. beschrieben wurde, sind die Beziehungen und Erfahrungen in der Peergroup wichtige Ressourcen / Faktoren für die Persönlichkeitsentwicklung in der Adoleszenz. Sie ist für Menschen mit intelektueller Beeinträchtigung mit besonderen Hürden verbunden.

Wie können Sie Ihr Kind hier unterstützen:

  • Unterstützen Sie Kontakte zur Peergruppe (Gleichaltrigen), auch außerhalb von Schule und Arbeitsplatz.

  • Lassen Sie ihr Kind Aktivitäten mit Freunden planen und unterstützen Sie es bei den eigenen Plänen -  auch wenn sie nicht Ihren Vorstellungen entsprechen.

  • Lassen Sie Ihr Kind seine Freunde selbst wählen.

  • Akzeptieren Sie die Verhaltensweisen in der Gruppe auch wenn sie Ihnen nicht gefallen.

  • Bewerten Sie die wechselnden Freund- und Feindschaften nicht über.

  • Versuchen Sie, notwendige Begleitung im Zusammenhang mit der Peer Group durch andere Personen zu organisieren.

  • Klären Sie Ihr Kind auf. Ermöglichen Sie Erfahrungen mit Gleichaltrigen in unbeobachteten, geschützten Räumen. Erlauben Sie z.B., dass die Jugendlichen sich auf ihr Zimmer zurückziehen. 

Die sexuelle Entwicklung ist dabei für Eltern ein besonders heikles Thema und für viele Eltern ein Dilemma, da sie Ihrem Kind zwar Erfahrungen ermöglichen wollen, aber ihr Kind auch vor Übergriffen bewahren möchten Für die sexuelle Entwicklung der Kinder sind aber sexuelle Erfahrungen in der Peergroup wichtig. Hier helfen nur Schritte nach vorne. Experten raten: Aufklärung und Erfahrungen in Beziehungen mit Gleichaltrigen schützen vor Missbrauch. [4]

Weitere Hinweise entnehmen Sie bitte dem Modul "Sexuelle Gesundheit” zum Beispiel das Kapitel "Right to know your own body".


3.1.3. Experimentieren können


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„Warum ist das Experimentieren wichtig?“

Spielerische Experimentieren setzt Lernprozesse in Gang und aktiviert soziale Fähigkeiten. In konkreten Situationen müssen Entscheidungen getroffen werden. „Wie soll ich mich verhalten?“ Für die Entscheidungen muss Verantwortung dafür übernommen werden. Diese Prozesse fordern und fördern dadurch die verschiedenen Teile der Persönlichkeit.

Gleichzeitig ist Experimentieren mit Risiken verbunden und Bezugspersonen stehen vor der Frage, welche Risiken sie sich und ihren Kindern zumuten.

Ein Experte geht soweit, dass er sagt:  “Junge Erwachsene mit geistiger Behinderung müssen bewusst den normalen Lebensrisiken ausgesetzt werden, da diese für die Identitäts- und Persönlichkeitsentwicklung wesentliche Entwicklungsimpulse beinhalten“ (Winniger 2006, 35). Doch gerade das Thema Risikoerfahrungen führen Eltern häufig in ein Dilemma, da die Gefahren durchaus real sind .

Dennoch: „Erfahrungen verhelfen zu einer realistischen Sicht auf sich selbst. Diese Sicht hilft zu akzeptieren, etwas nicht zu können, was wiederum die Voraussetzung für jedes Lernen ist – sonst ist jedes Nicht-Können eine Kränkung!“ [5]

Wie Sie ihr Kind hier unterstützen können:

  • Gehen Sie Konflikte ein und bleiben Sie dabei eine stabile emotionale Basis. [6]
  • Konflikte haben eine entwicklungsfördernde Funktion, da sie ein Zeichen der Aushandlungsprozesse zwischen Eltern und jungen Erwachsenen sind. [7]
  • Konflikte bieten Möglichkeiten Distanz zu gewinnen, es findet eine Konfrontation mit verschieden Standpunkten und Argumenten statt. [8]
  • Ein Kampf um Regeln kann  ein Ablösungskonflikt sein. Eltern haben mehr „Macht“ z. B. auf Regeln zu beharren. Hier wäre wichtig, dass  die Auflehnung auch mal Erfolg hat. [9]
  • Lassen Sie ihr Kind Risiken eingehen, z.B. Rauchen, in die Disco gehen, selbständiges Reisen, Umgang mit dem Taschengeld oder mit einem Freund ausgehen, mit dem man sich abschotten kann. [10]

 
"Warum sind unbeobachtbare Räume wichtig?"

Der Erfahrungsraum von Menschen mit geistiger Beeinträchtigung ist auch dadurch eingeschränkt, dass sie insgesamt viel häufiger unter Aufsicht stehen. Es gibt kaum unbeobachtete Räume. Auch in Bereich individueller Freundschaften und Liebesbeziehungen braucht es oft die Eltern, die (mit den anderen Eltern) Termine machen, Fahrdienste organisieren. Ohne das Einverständnis der Eltern  ist wenig möglich. [11]

Wenn dem Jugendlichen Aktivitäten und Erfahrungen ohne Eltern ermöglicht werden, kann davon ausgegangen werden, dass eine Ablösung von den Eltern erfolgreicher und positiver verläuft. So wird beschrieben, dass Kinder denen Situationen ohne direkte Kontrolle zugestanden werden, wo sie ihre Stärken und Schwächen selbständig erfahren können, eher ein Gefühl für Identität und Autonomie entwickeln. [12]


"Warum sind externe Unterstützer wichtig?"

Wenn Begleitung notwendig ist: Es ist ein Unterschied, ob die Mutter, der Vater einen Kinobesuch eines verliebten Paares begleitet oder ob dies z.B. ein Mitarbeiter eines Freizeitangebotes tut. Es macht auch ein Unterschied, wenn eine Gruppe Jugendlicher mit professioneller Begleitung zu üblichen Zeiten (ab 23:00) eine Disco besucht.
Mehr Informationen zu externen Unterstüzer finden sie in Kapitel 5.